Ein vereitelter Überfall

Sie hatte den Tag mehr oder weniger in ihrem Gemach verbracht, sich in die Lektüre von Schriftrollen und das Verfeinern ihrer Tinkturen geflüchtet. Der vorige Abend hatte sie in einen Schock versetzt, über den sie noch nicht hinweg war. Die Angst um Lord Mormont, als er sich dem von Alester Glover geforderten Gottesurteil stellen wollte, hatte sie wie eine kalte Faust mitten in den Magen getroffen und sich danach in Zorn gewandelt. Zorn weniger auf den Herausforderer, sondern auf ihren Vormund, der sich in einen Kampf auf Leben und Tod hatte begeben wollen. Sie wusste, dass Alester mehrere Jahre als Söldner gedient hatte, in Essos, und was er ihr davon erzählt hatte, hatte ihr Schauer über den Rücken gejagt. Sie seufzte und legte die Phiole, die sie gerade befüllt hatte, vorsichtig ab. Sie konnte sich nicht ewig verstecken, es war lächerlich. Sie erhob sich und straffte sich. Das rote Kleid mit dem rehledernen Mieder lag wie eine Rüstung um ihren Leib, sie hatte es gewählt, um sich gestärkt zu fühlen.

Auch wenn Freya noch immer mitgenommen von den Ereignissen des vorigen Abends war, erfreute sie das Weidersehen mit Dyrka.
Auch wenn Freya noch immer mitgenommen von den Ereignissen des vorigen Abends war, erfreute sie das Weidersehen mit Dyrka.

Als sie nach draußen trat, erkannte sie neben Lady Ariana und Lord Mormont auch Lady Dyrka, die ihren offenbar fülliger gewordenen Körper in ein rotseidenes Kleid mit gewaltigem Federkragen gehüllt hatte. Freya musste lächeln: Sie hatte wider besseres Wissen Dyrka vermisst. „Gute Abend!“ grüßte sie höflich und trat näher. Dyrka schien ebenfalls erfreut, sie gab mit fachkundiger Miene ihre Meinung über Freyas Kleid ab („Rot steht dir gut, die Farbe der Saison! Nur das Braun drückt ein wenig!“) und war ansonsten offenbar mit ihrem Schwager in ein Gespräch über ihre Kisten vertieft, von denen eine vielleicht bei einer hilfesuchenden Dame gelandet war, die bei Lord Mormont um Hilfe vorstellig geworden war und die nun in einer Kate im Dorf übernachten würde. Lady Dyrka war, nicht überraschend, wenig begeistert von dieser Vorstellung.

Dyrka hatte wie üblich etwas zu bemängeln, Lady Ariana schien etwas blass und Lord Mormont wirkte finster und entschlossen.
Dyrka hatte wie üblich etwas zu bemängeln, Lady Ariana schien etwas blass und Lord Mormont wirkte finster und entschlossen.

Auch Lady Ariana schien nicht allerbester Stimmung zu sein, sie wirkte höflich und durchaus freundlich, aber auch erschöpft, wie Freya auffiel. Sie nahm sich vor, die Lady in Bälde auf ihre Gesundheit anzusprechen, kam aber nicht dazu, da Lord Mormont sie und Dyrka in sein Gemach bat, um mit ihnen innerhalb der Familie zu sprechen. Man verabschiedete sich von Ariana, Freya folgte ihm schweigend, Lady Dyrka aufgebracht. „Wie könnt Ihr uns nur so vor einer Fremden bloßstellen! Es sieht ja geradezu aus, als lägen wir im Familienstreit, wenn Ihr in so einem Ton vorgeht!“ Lord Mormont ging nicht weiter auf Dyrkas Beschwerden ein, er berichtete ohne Umschweife von der jungen Frau, die ihn um Schutz gebeten hatte.

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„Ist es denn nötig, sich dermaßen herrisch zu gebärden? Dieser Befehlston! Was soll sich denn die kleine Lady Ariana von uns denken!“ ereiferte sich Dyrka.

Bei Freya läuteten alle Alarmglocken gleichzeitig und sie konnte sich nicht verkneifen, eine Bemerkung über die letzte Schutzsuchende fallen zu lassen … Lord Mormont meinte, dass diese aus einer ganz anderen Gegend komme: Es handle sich um Morgana Blacktyde, eine Frau von den Eiseninseln, auf der Flucht war, da sie offenbar Alester Glover bei etwas geholfen hatte, das Lady Dyrka plötzlich sehr ernst werden ließ. „Schon wieder dieser Alester!“ zischte sie. „Ein gefährlicher Mann, und er ist bei uns auf der Insel?“ Lord Mormont stimmte ihren Bedenken in allem überein und Freya fragte sich, ob diese Frau wohl auch jung und leichtgläubig war. Sie wurden jedoch in ihren Gesprächen unterbrochen, da Bedienstete wild entschlossen an die Tür pochten und sich nicht beruhigen wollten. Von Kampf berichteten sie, einem Überfall, von Toten und von Ser Robin, der einen Boten geschickt hatte um Lord Mormont zu holen. Eilig folgte man dem Mann ins Tal …

Ser Robin stand in blutbeflecktem Wams neben einem Karren voller Erschlagener ...
Ser Robin stand in blutbeflecktem Wams neben einem Karren voller Erschlagener …

Neben dem Brunnen auf dem Marktplatz war ein Menschenauflauf trotz der späten Stunde. Freya lief ein Stück hinter dem Lord und konnte nichts Genaues sehen, bis sie sich durch die Menge an die Seite ihres Vormunds vorgearbeitet hatte. Es verschlug ihr beinahe den Atem: Ser Robin und Alester Glover, beide in blutbefleckter Kleidung, letzterer offenbar auch verletzt, standen neben einem Karren, der mit mehreren Leichen beladen war, offenbar Kämpfer in grau-schwarzer Kleidung. In einiger Entfernung konnte sie Männer der Wache sehen, einige davon ebenfalls verletzt. Kaum waren sie in die Nähe des Wagens getreten, entschuldigte sich Alester und wankte davon in Richtung seines Hauses. Lord Mormont blickte ihm kurz stirnrunzelnd nach, schenkte dann aber Ser Robin seine Aufmerksamkeit, der berichtete:

Alester Glover hatte wild gekämpft, beinahe wie im Blutrausch, sagte Ser Robin.
Alester Glover hatte wild gekämpft, beinahe wie im Blutrausch, sagte Ser Robin.

Ein aufmerksamer Wachmann hatte im Wald Fackelschein bemerkt und ihn alarmiert. Mit drei weiteren Männern waren sie dem Lichtschein gefolgt, der sich langsam und flackernd in Richtung Burg bewegte. Aus ihrem Versteck heraus konnten die Männer neun Kämpfer zählen, die allesamt bewaffnet und gerüstet waren und eindeutig wie Männer von den Eiseninseln aussahen. Den Vorteil der Deckung nutzend griffen die Wachen unter Robins Kommando an: Die Eisenmänner waren zähe Männer und wehrten sich heftig und waren auch in der Überzahl. Nur einer von ihnen ergriff schnurstracks die Flucht und entkam auch. Der Kampf war erbittert und hätte für einige Wachen schlimm ausgehen können, wäre ihnen nicht plötzlich Alester Glover zu Hilfe geeilt, der sich offenbar im nahen Steinkreis aufgehalten hatte. Auch wenn Robin keinen Hehl daraus machte, dass er Glover deswegen nicht lieber mochte, so zollte er ihm doch seinen Respekt. Gemeinsam hatten sie es geschafft, alle Eindringlinge zu besiegen, allerdings war der Tod eines tapferen Wachmanns zu beklagen. Ser Robin meinte schließlich, dass er keine Ahnung habe, wohin die Männer unterwegs gewesen waren.

Gebannt lauschten sie den Worten Ser Robins, der zum Glück unverletzt zu sein schien.
Gebannt lauschten sie den Worten Ser Robins, der zum Glück unverletzt zu sein schien.

Freya starrte Ser Robin an, sein Wams war voll Blut und die Wachen neben dem Brunnen schienen alle Verletzungen davongetragen zu haben. „Seid Ihr auch verletzt?“ fragte sie ihn voll Besorgnis, ihr Groll gegen ihn für diesen Moment vergessen. Er verneinte und übergab Lord Mormont mit schwer zu deutendem Gesichtsausdruck einen ledernen Umschlag. „Dies trug einer bei sich … Ihr solltet es Euch in Ruhe ansehen.“ Robins Blick sagte deutlich, dass er es für besser hielt, das nicht vor den Anwesenden zu tun, worauf Lord Mormont nickte und den Umschlag unter seinem Umhang verwahrte. Inzwischen konnte Freya Getuschel hinter sich vernehmen: Es waren offenbar auch Charis, Lady Ariana, Cypria und natürlich auch Dyrka hier, letztere hielt sich vornehm eher im Hintergrund und drückte sich ein Spitzentuch gegen Mund und Nase.

Freya erschrak leicht, als sie einen der Toten erkannte: Es war der seltsame grauhaarige Fischer.
Freya erschrak leicht, als sie einen der Toten erkannte: Es war der seltsame grauhaarige Fischer.

„Kennt jemand einen der Männer?“ fragte Robin und lud die Anwesenden ein, sich ein Bild von den Erschlagenen zu machen. Eine junge schwarzhaarige Frau, die Freya bis dato nicht gesehen hatte, trat vor und musterte die Toten. Sie schüttelte den Kopf und blickte zu Lord Mormont, der ihr zunickte. Das muss diese Morgana sein, fuhr es Freya durch den Kopf. Wie musste es ihr gehen, wenn sie lauter tote Landsmänner hier liegen sah? Ihre Gedanken wurden jedoch bald abgelenkt, denn als sie über den Rand des Karrens blickte, erkannte sie ein ihr bekanntes Gesicht: Der graubärtige Fischer, der sie vor einer Weile auf dem Markt angesprochen hatte, wissen hatte wollen, ob sie Lady Freya sei und einen Kapitän Sturmhand erwähnt hatte, der wohl zufrieden sein würde, war eindeutig einer der Toten. Nachdenklich trat sie zurück und berichtete es Ser Robin und Lord Mormont. Vor allem Ser Robins Blick schien kurz finsterer zu werden. Niemand sonst erkannte jemanden.

Viele Menschen waren da, doch niemand erkannte einen weiteren der Toten.
Viele Menschen waren da, doch niemand erkannte einen weiteren der Toten.

Langsam ließ die Aufregung nach und Freya realisierte, dass niemand den siegreichen Kämpfern etwas zur Stärkung gebracht hatte. Kurzerhand rief sie einige Dorfbewohner zu sich und befahl ihnen, Wein und Wasser, sowie etwas zu essen zu bringen, was umgehend erledigt wurde. Lächelnd nahm Ser Robin einen Wasserschlauch entgegen und nahm einen tiefen Schluck. Sie ließ auch den anderen Wachen etwas bringen und bat schließlich darum, dass ihr jemand einen Korb mit Verbandszeug bringen möge, sie würde sich um die Verletzungen der Kämpfer kümmern, da der Maester bereits sehr betagt war und in der Dunkelheit nur schwer und langsam ins Tal kommen könnte. Endlich lösten sich auch die anderen aus dem Zustand des Schocks. Charis stellte sich sofort an ihre Seite und bot ihre Hilfe an, die Freya dankbar annahm. Auch Ariana gesellte sich zu ihnen und Cypria lief auf Charis‘ Aufforderung hin einen Korb mit Verbandszeug und Arznei zu holen.

Freya kniete sich an den Brunnen zu den verletzten Wachen, um sich um ihre Wunden zu kümmern. Sie erhielt sogleich Hilfe von Charis.
Freya kniete sich an den Brunnen zu den verletzten Wachen, um sich um ihre Wunden zu kümmern. Sie erhielt sogleich Hilfe von Charis.

Es wurde bereits darüber diskutiert, ob die Köpfe oder die ganzen Leichen zur Schau gestellt werden würden, als Abschreckung sozusagen, als Freya mit dem Säubern, Nähen und Verbinden der Wunden fertig war. Ihre Hände hatten mechanisch die Arbeit verrichtet, während sie, um die Patienten die Schmerzen nicht so spüren zu lassen, Scherze und kleine Geschichten mit den Männern austauschte. Sie wusste, dass es für die Wachen nicht leicht war, unter den Augen aller beherrscht und tapfer zu wirken, während eine Nadel durch ihr Fleisch fuhr. Sie hatte währenddessen den wohlgefälligen Blick Lord Mormonts auf sich ruhen gespürt, der nach verrichteter Arbeit ein Lob an die Frauen, die beim Verarzten geholfen hatten, aussprach. Freya bedankte sich ebenfalls und bemerkte mit einem leichten Lächeln, dass Ariana Tallhart sich besonders freute, es schien ihr sehr wichtig zu sein, zu zeigen, dass sie sich nützlich machen konnte.

Schließlich löste sich die Versammlung auf, Lord Mormont kehrte auf die Burg zurück, Ser Robin sorgte dafür, dass der Karren weggebracht wurde und einige kehrten erschöpft in ihre Bewohnungen zurück. Freya straffte sich und nickte den beiden Wachen zu, die sie begleiten würden. Es gab noch zwei Personen im Dorf, deren Wunden versorgt werden mussten …

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